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Hirntod, moderne Medizin und ein menschenwürdiges Sterben


Wann hört das Leben auf? - Die Debatte um Hirntod, moderne Medizin und ein menschenwürdiges Sterben

Deutschlandfunk (www.dradio.de)

Sendung: Studiozeit. Aus Kultur- und Sozialwissenschaften

Von Peter Leusch (www.peter-leusch.de)

18.11.2004. 20:10 - 21:05 Uhr

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Sendeskript:

O-Ton, Gisela Meyer (www.initiative-kao.de):

Wir saßen von einem Moment auf den anderen, von einem sehr glücklichen Moment, dann plötzlich am Sterbebett unseres Kindes, wir konnten es gar nicht fassen, weil unser Kind auch völlig unverletzt aussah, es war eigentlich nur die Beatmung, die uns sagte, es ist hier etwas Schlimmes passiert. Und dann kam sehr schnell die Frage - in einem Moment, wo mein Mann noch nicht einmal dabei war, - kam ein Arzt auf mich zu und sagt: ‚Ihr Kind ist tot, können Sie Organe spenden? Überlegen Sie, Sie haben Zeit' - das war nachmittags- ‚bis morgen früh um acht Uhr', - da hieß es nur, dann würden die Apparate abgestellt, und dann wurde aufgezählt, was sie alles brauchen. Sie haben die ganzen Organe aufgezählt ... Ich habe nur noch in Erinnerung, dass über mich ein ganz großes Zittern kam, und ich mich nach hinten anlehnen konnte, und dann war auch dieser Arzt schon wieder weg.

Sprecherin:

Gisela Meyer schildert, wie sie 1997 ihren Sohn Lorenz verlor: Der 15jährige Junge lag nach einem tragischen Unfall im Urlaub mit irreversiblem Hirnversagen - hirntot - auf der Intensivstation. Lorenz wurde künstlich beatmet. Die Apparate und Medikamente sorgten dafür, dass sein Herz weiter schlug und der Kreislauf stabil blieb. Doch das Gehirnversagen war endgültig. Ins Leben zurück konnte er nicht mehr. Aber war er deshalb schon tot?

Seit dem Transplantationsgesetz von 1997 gilt auch in Deutschland der Hirntod als Tod des Menschen. Die Ärzte fragten die Eltern, ob sie zugunsten Dritter Organe des Kindes entnehmen dürfen.

O-Ton, Gisela Meyer (www.initiative-kao.de):

Ich habe da nach wie vor gesessen, ich habe auch mein Kind wahrgenommen als lebend, es hat sich bewegt, es bekam einen Hautausschlag, der wieder wegging, und dann waren das zwei durchwachte Nächte und dieser Morgen - als noch einmal sehr intensiv die Frage kam: "Wofür haben Sie sich jetzt entschieden, und was würden Sie spenden?" Und wir waren - ich habe immer dieses Bild - wie in so einem Schraubstock, ich war so am Ende und hatte das Gefühl, das wird immer mehr zusammengezogen, und du kannst nur noch da herauskommen, wenn Du jetzt sagst: Ja.

Und das ist im Nachhinein etwas, was mich sehr geplagt hat, dass in dem Moment, wo ich eigentlich für mein sterbendes Kind hätte da sein müssen, ich mich an seinem Bett habe wegmanipulieren lassen. Ich kann heute überhaupt nicht fassen, wie ich aus diesem Zimmer rausgehen konnte, ich kann mir das nur so erklären, dass ich nach zwei durchwachten Nächten völlig am Ende war.

Sprecher:

Ärzte und der Krankenhausseelsorger erklärten den Eltern, dass die Organe ihres Kindes anderen zum Weiterleben helfen könnten. Gisela und Jürgen Meyer fühlten sich subtil unter Druck gesetzt. Wie viele Menschen waren sie uninformiert und nahmen an, dass die Organe ihres Kindes erst nach dem Abstellen der Apparate, d.h. nach dem Herztod entnommen würden. Doch das ginge nicht, eröffnete man ihnen schließlich. So mussten sie ihr Kind zurücklassen, an dem sie noch soviel Leben wahrnahmen, auch wenn es nach geltendem Hirntod-Kriterium für bereits verstorben erklärt wurde.

Sprecherin:

Nur auf Drängen erhielten sie die Möglichkeit, nach der Organentnahme ihr nun offensichtlich verstorbenes, weil auch herztotes Kind im Leichenkeller des Krankenhauses noch einmal zu sehen. Eine traumatische Erfahrung: zum Schmerz des Verlusts kam der nagende Selbstvorwurf, das eigene Kind in seiner schwersten Stunde allein gelassen zu haben.

O-Ton, Gisela Meyer (www.initiative-kao.de):

Wir kamen dahin und mein erster Eindruck war, das ist ein Irrtum, das ist nicht mein Kind, und dann bin ich näher an seine Bahre getreten, dann habe ich ihn wohl erkannt, aber sein Gesicht war total verändert, und mein ganz spontaner Eindruck war, der hat Schmerzen gehabt. Der hatte ganz zusammengezogene Lippen und hatte verklebte Augen, wobei wir ausdrücklich gesagt hatten: ‚Die Augen nicht!' Ich wollte - ich hatte da keine Berührungsängste - unbedingt gucken, was haben sie hier mit meinem Kind gemacht, und wollte die Pflaster entfernen, und dann passierte etwas, was unsere Ehe enorm belastet hat, aber was ich im Nachhinein völlig verstehe: Mein Mann, der noch nie einen Toten gesehen hatte, bis zu dem Moment, der geriet so in Panik, der hatte Angst vor der Erkenntnis, hier ist etwas Schlimmes passiert, hat mich zurückgezogen und daran gehindert, was ich unbedingt hätte machen müssen, und wir sind dann voller Schuldgefühle aus diesem Leichenkeller geflohen, also weg gelaufen vor unserem jetzt wirklich toten Kind.

Musikalisches Intermezzo

Sprecher:

Gisela und Jürgen Meyer haben eine Initiative ins Leben gerufen. Sie heißt ‚Kritische Aufklärung über Organsspende', im Internet unter www.initiative-KAO.de. Die Initiative, in der sich auch andere Eltern und Angehörige mit leidvollen Transplantationserfahrungen organisiert und an die Öffentlichkeit gewandt haben, wirft der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der Deutschen Stiftung Organtransplantation vor, die Dinge in einem zu rosigen Licht darzustellen und nicht umfassend zu informieren.

Sprecherin:

Die Diskussion über Hirntod und Organtransplantation offenbart, dass sich im Zeitalter der Intensivmedizin die Fragen von Leben und Sterben auf neue Weise stellen. Wann ist der Mensch tot? Was heißt Sterben heute, und wie kann es in einer menschenwürdigen Weise geschehen?

Sprecher:

Amerikanische Jugendliche glauben, so das verblüffende Ergebnis einer Umfrage, dass der gewaltsame Tod nach Verbrechen oder Naturkatastrophen die häufigste Todesursache sei: das normale Versterben aufgrund von Alter und Krankheit erfahren die Jugendlichen nicht mehr. Während die Medienwelt den gewaltsamen Tod in unzähligen Krimiserien auf beinahe allen Kanälen vorführt, hat die Alltagswirklichkeit den gewöhnlichen Tod ausgeklammert und verdrängt, er findet abseits hinter den verschlossenen Portalen der Institutionen statt. Hierzulande sterben ca 60% der Menschen im Krankenhaus, weitere 30% in Altersheimen.

Sprecherin:

Trauen Menschen es sich überhaupt noch zu, bei ihren sterbenden Angehörigen im Krankenhaus zu sein und sie zu begleiten? Und welche Möglichkeiten räumt ihnen die Welt der hoch technisierten Medizin ein?

Vielen Menschen wird heute ihr Tod gleichsam geraubt, indem Angehörige, Ärzte oder Pfleger den Ernst der Stunde verheimlichen oder noch schlimmer, der Apparatemedizin die Kontrolle übergeben und den Tod nicht mehr eintreten lassen.

Patientenverfügung, Sterbehilfe, Hospizbewegung sind Themen, die andere Seiten derselben Problematik betreffen. Die moderne Medizin, die in so bewundernswerter Weise Leben rettet, bringt auch neue Probleme hervor, wirft selber Fragen auf.

Musikalisches Intermezzo

Sprecher:

Die Diskussion um den Hirntod, die immer wieder auflebt, zielt direkt auf eine existentielle Frage: Wann hört das Leben auf? Wann ist der Mensch tot? Und noch weiter gefragt: Was versteht man unter dem Tod des Menschen? Ohne dass es wirklich eingehend in der Öffentlichkeit beachtet worden ist, hat sich etwas ganz Elementares verändert: der Todesbegriff.

Sprecherin:

Bis 1968 galt der Mensch als tot, wenn Herz und Kreislauf stillstanden und keine Reanimation mehr möglich ist. Nach einiger Zeit stellen sich dann jene untrüglichen und sicheren Todeszeichen ein - Leichenstarre, Blässe und Totenflecken - wie sie die Menschheit seit Urgedenken kennt.

Die Bedingungen der modernen Medizin brachten jedoch ein neues Phänomen hervor. Mit Hilfe von künstlichen Beatmungsgeräten gelang es erstmals Ende der 50er Jahre, das Herz-Kreislauf-System von Patienten aufrechtzuerhalten, deren Gehirnfunktionen vollständig ausgefallen waren. Das Gehirn war infolge eines zeitweiligen Sauerstoffausfalls nicht mehr durchblutet und abgestorben.

Sprecher:

Patienten mit diesem totalen Gehirninfarkt unterschieden sich von anderen Koma-Patienten zwar nicht äußerlich, wohl aber in der Hinsicht, dass ihr Zustand irreversibel war, und ein Abstellen der Geräte unmittelbar zum Herzstillstand und zum Tod im herkömmlichen Sinne führte.

Eine wissenschaftliche Kommission der Harvard-Universität kam 1968 zu dem Ergebnis, dass dieser Gehirninfarkt ein zusätzliches Todeskriterium abgebe. Sie definierten das irreversible Hirnversagen als Tod des Menschen. In vielen anderen Ländern schloss man sich diesem neuen Todesbegriff an, so auch die Bundesärztekammer und die medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften in Deutschland.

Heiner Smit, Bevollmächtigter des Vorstands der Deutschen Stiftung Organtransplantation, erläutert dieses Hirntod-Konzept:

O-Ton, Heiner Smit:

Auf der medizinisch-wissenschaftlichen Ebene gibt es eine eindeutige, klare und übereinstimmende Positionierung aller Fachgesellschaften, die sich mit der Erforschung und Behandlung des Gehirns auseinandersetzen, dass ein vollständiger und endgültiger Ausfall aller Hirnfunktionen ein sicheres Zeichen des eingetretenen Todes ist. ... Der Mensch ist deshalb tot, wenn alle Hirnfunktionen endgültig ausgefallen sind, weil er nur über das Gehirn mit dieser Welt kommunizieren kann, als Person überhaupt sich entwickeln kann, und dieses Gehirn auch das innere Milieu des Körpers steuert. Wenn also alle Hirnfunktionen ausfallen, erlöschen alle Kommunikationsmöglichkeiten und alle Steuermöglichkeiten, die das Herz-Kreislauf-System in Gang halten. Und damit ist dem Menschen jede Lebensgrundlage entzogen.

Sprecherin:

Bis heute gibt es jedoch viele Stimmen, auch von medizinischer Seite, die diesem neuen Todeskriterium widersprechen, zum Beispiel Professor Linus Geisler, bis 1999 Chefarzt der Klinik in Gladbeck, Sachverständiger der Enquete-Kommission ‚Ethik und Recht der modernen Medizin'.

O-Ton, Linus Geisler (www.linus-geisler.de):

Jeder, der stirbt, ist zu einem gewissen Zeitpunkt hirntot, aber das ist etwas ganz flüchtiges, während der Hirntod, von dem wir hier sprechen ein Kunstprodukt der Intensivmedizin ist. D.h. eine Sterbephase, lässt sich mit einem riesigen medizinischen Aufwand quasi wie in einer Zeitlupe über Stunden ja eventuell über Tage, Wochen, und Monate sogar dehnen, wir haben also etwas, was in der Natur so gar nicht vorkommt. Auf der anderen Seite muss man sagen, wenn das Gehirn irreversibel ausgefallen ist, funktionieren 97% des Körpers, zwar mit intensivmedizinischer Unterstützung, vollkommen gut oder zumindest so weit, dass dieser Mensch über längere Zeit in diesem Zustand erhalten werden kann. Also auch hier ist es sehr fragwürdig, die Separierung des Gehirns in der Betrachtung des Hirntodkriteriums zu sehen.

Sprecher:

Dass es sich beim totalen Gehirnausfall, also dem Ausfall von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm um ein unwiderrufliches Zuendegehen des Lebens handelt, dass diese Patienten nicht mehr wiederhergestellt werden können, darüber besteht Einigkeit. Umstritten aber bleibt, wie die Situation des Menschen mit Gehirnversagen zu beurteilen ist. Befindet er sich nun diesseits oder jenseits der Todesschwelle, ist er noch im Sterben, oder handelt es sich bereits um einen Absterbensprozess, der lediglich durch medizinisches Gerät hinausgezögert wird?

Sprecherin:

Michael Reuter aus Trier, der Philosophie und Theologie studierte, hat sich aus ethischer Perspektive mit dem Problem des Hirntodes auseinandergesetzt. Reuter verweist auf den Fall einer schwangeren Frau, wodurch die Probleme erstmals in Deutschland eine breite Öffentlichkeit erreichten.

O-Ton, Michael Reuter:

Der so genannte Erlanger Fall, 1992, der Fall einer hirntoten Schwangeren, die nach fünf Wochen im Hirntod fortgeführter Schwangerschaft ihr Kind spontan als Totgeburt zur Welt brachte, wo damals Hans Jonas, der noch lebte, gesagt hat, dass sei ein sehr deutlicher Beleg gegen die Leichenthese, also wenn der Organismus der Frau erstens in der Lage ist, eine Schwangerschaft fortzuführen und zweitens auch diese Schwangerschaft spontan abzubrechen. Es gab den selben Fall von den Medien nicht so beachtet 1991 in Filderstadt in der Klinik, von Ärzten begleitet, die der Hirntod-Theorie nicht folgen, da gab es eine erfolgreiche Entbindung, das Kind ist heute 13, 14 Jahre alt von einer hirntoten Mutter. ...Es gibt in der Literatur andere Fälle, meines Wissens zuletzt im Jahr 2000 die erfolgreiche Geburt eines Kindes einer hirntoten Mutter. Musikalisches Intermezzo

Sprecher:

Der Zustand eines Menschen mit irreversiblem Hirnversagen irritiert nicht nur Laien, sondern auch ausgebildete und erfahrene Pflegekräfte im Krankenhaus. Das hat Roberto Rotondo, ein Hamburger Diplompsychologe untersucht, der in seinem ersten Beruf selber Krankenpfleger ist.

O-Ton, Roberto Rotondo (www.robertorotondo.de):

Also diese Menschen - Hirntote - wirken wie lebendige Menschen. Wenn man den Vergleich zu einer Leiche zieht. Ich habe insgesamt 11 Jahre in der Pflege gearbeitet ... und habe schon viele Leichen gesehen und auch Sterbende, Und Hirntote, die liegen auf einer Intensivstation, sie werden mit Geräten am Leben gehalten, was aber viele Menschen werden auf einer Intensivstation. Jeder Mensch, der dort ist, hängt - in Anführungsstrichen - an Geräten, die ihm das Leben verlängern oder aber dann auch ermöglichen, wieder ohne Geräte zu leben. Und Hirntote brauchen eine Beatmung, auch Medikamente, ja - sie sind warm, sie scheiden aus, sie können sich sogar bewegen, sie wirken wie komatöse Patienten, also von einem komatösen Patienten, der in einer tiefen Bewusstlosigkeit liegt, unterscheiden sich Hirntote vom äußeren Erscheinungsbild her überhaupt nicht. Sprecherin:

Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel nannte Gehirninfarkt-Patienten sehr treffend Zwitter zwischen Leben und Tod. Sterben war immer schon ein Prozeß, der langwierig und leidvoll sein kann. Der Tod aber bildete bisher ein Ereignis, den Schlusspunkt dieses Prozesses. Nun jedoch unter den Bedingungen der Intensivmedizin verwandelt sich auch der Tod selbst in einen eigenartigen Prozeß: klinisch tot - hirntot - herztot. Todeskriterien, die bislang nahezu zusammenfielen, dehnen sich zu einem mysteriösen Stadium aus, in dem die Intensivmedizin den Menschen festhalten, aber nicht mehr zurückholen kann. Das menschliche Wesen vegetiert gleichsam auf der Schwelle: nicht mehr recht lebendig, weil das Gehirn abgestorben ist - aber auch nicht vollkommen tot, weil doch der Körper in seinen Vitalfunktionen weiterexistiert, wenngleich gestützt durch medizinische Apparatur.

Sprecher:

Verschiedene Mediziner und Wissenschaftler kämpften zunächst deshalb für die Anerkennung des Hirntodes, weil sie den Menschen aus diesem seltsamen Zwischenbereich, dieser Zombi-Existenz, erlösen wollten. Ihr Argument lautete: Wenn die moderne Medizin einen Patienten zwar vor dem Herzstillstand und Kreislaufversagen bewahren, aber aufgrund des Hirnversagens in keiner Weise wieder zu einem menschenähnlichen Leben zurückbringen kann, so sei die Grenze zum Tod schon überschritten. Es sei deshalb humane Pflicht, die Apparate abzustellen und der Natur ihren Lauf zu lassen, so dass der nicht mehr zu Rettende, der Todgeweihte vollständig sterben kann, ja sterben darf.

Sprecherin:

Die Diskussion um die Anerkennung eines Hirntodes orientierte sich zu Beginn ausschließlich an der Idee eines humanen menschenwürdigen Sterbens. Im Blickpunkt stand also nur das eine todgeweihte Individuum. Sehr schnell trat jedoch ein zweiter Aspekt hinzu, der seit Ende der sechziger Jahre und bis heute die Diskussion bestimmt, die Frage der Organverpflanzung, d.h. die Lebens- und Überlebensinteressen anderer Individuen.

Sprecher:

Die Technik der Organtransplantation, seit der ersten Herztransplantation 1967 im Licht der Öffentlichkeit, nährt bei schwerkranken Menschen große Hoffnung. Manche von ihnen können weiterleben, wenn sie ein neues Organ erhalten, ein Herz, eine Leber, eine Lunge? Warum das Organ nicht diesen geben, wenn jener mit irreparablem Gehirnversagen ohnehin nicht ins Leben zurückgeholt werden kann.

Aber läßt sich die Frage so rein unter Nützlichkeitsaspekten - utilitaristisch - abhandeln? Man darf nicht- so protestierte der Philosoph Hans Jonas - am lebenden Leichnam Organe entnehmen.

Sprecherin:

Im Gegensatz zu Nieren kann man Organe wie Herz, Lunge und in der Regel auch die Leber nur verpflanzen, wenn sie - wie im Fall von Hirntoten - bis zuletzt durchblutet waren. Man darf sie den Patienten mit Gehirnversagen aber nur entnehmen, wenn diese im ethischen und rechtlichen Sinne als tot, als schon verstorben angesehen werden. Andernfalls würden die Chirurgen sich einer aktiven Tötung schuldig machen, denn dann würde die operative Herzentnahme selber den Tod herbeiführen.

Sprecher:

Die medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften haben sich in der Mehrheit der Annahme des Hirntods angeschlossen. Und der deutsche Bundestag ist dem in seinem Transplantationsgesetz 1997 gefolgt. Im Transplantationsgesetz heißt es in § 4

Zitator:

Die Entnahme von Organen ist ... nur zulässig, wenn ... der Tod des Organspenders nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist.

Sprecherin:

Der Bundestag hat - gerade weil es unterschiedliche Auffassungen gibt - keine letzte metaphysische Definition des Todes getroffen, er sagt nicht was der Tod seinem Wesen nach sei, Hirntod oder Herztod oder noch etwas anderes. Er hat diese Frage offen gelassen, aber in dem er das Recht zur Organentnahme an die medizinische Todesfeststellung band, avancierte die Medizin doch zur Definitionsmacht, wie Michael Reuter in seinem Buch ‚Abschied von Sterben und Tod?' moniert.

O-Ton, Michael Reuter:

Das ist auch einer der Kritikpunkte am Gesetz: ein Definitionsmonopol wird geschaffen, nicht nur von Medizinern, sondern dieser Standesorganisation von Ärzten, die eigentlich nicht dafür zuständig ist, den Tod zu definieren, die sicherlich zuständig ist für Regeln der Todesfeststellung.

Was der Tod aber sei, da sind wir sozusagen alle kompetent. ... Es ist so, dass eben derjenige, der in unserem Sprachgebrauch sich auskennt, sehr wohl weiß, was mit dem Wort Tod gemeint ist, und angesichts des Hirntodes in Verlegenheit gerät, wenn man dann plötzlich von schwangeren Leichen, lebendigen Toten, erfährt, und diesem Phänomen nachzuspüren und zu schauen, wie verhält es sich mit dem Tod im Hinblick auf den Hirntod, war ein Anliegen des Buches.

Sprecher:

Der Bundestag hat mit dem Gesetz Rechtssicherheit geschaffen. Die Organentnahme bei Hirntoten ist legitimiert, sofern der Spender selber - durch eine Erklärung in Form eines Organspendeausweises - einer Entnahme zugestimmt hat, oder ersatzweise, wenn die Angehörigen dieser Explantation zustimmen, wobei sie dem mutmaßlichen Willen des Betroffenen zu entsprechen haben.

Sprecherin:

Die Diskussion ist nach dieser rechtlichen Klärung leiser geworden, aber nicht verstummt. Nach wie vor gibt es Einwände auf unterschiedlichen Ebenen. Es beginnt bei der Diagnostik.

Die Feststellung des Hirntods erfolgt in einer Reihe von Tests, und unabhängig voneinander, durch zwei Ärzte , um sicher zu gehen, dass keine tiefe Bewusstlosigkeit, sondern ein irreparabler Ausfall von Großhirn, Kleinhirn sowie Hirnstamm vorliegt. Dieser Gehirnausfall kann unter anderem auch durch ein EEG nachgewiesen werden. Verzeichnet das EEG keine Hirnströme mehr, spricht man vom Null-Linien-Diagramm. Doch auch hier bleiben bestimmte Restzweifel, so Professor Linus Geisler:

O-Ton, Linus Geisler (www.linus-geisler.de):

Es wird gesagt der Hirntod ist der Ausfall aller Funktionen des Gehirns, das würde ja bedeuten, dass man auch alle Funktionen des Gehirns kennt, was man nicht tut, man kennt keineswegs alle Funktionen des Gehirns, aber auch wenn man die nicht kennt, gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen, zum Beispiel aus Japan, wo man sich besonders kritisch mit der Hirntod-Diagnostik auseinandersetzt, die zeigt, dass sehr wohl wenn auch minimale Restfunktionen des Gehirns über Tage noch da sein können, ... Oder aber dieses berühmte Null-Linien-EEG. Das hat man nur, wenn man an der Hirnoberfläche ableitet. Japaner haben zum Beispiel gezeigt, dass man bei Menschen, bei denen man ein Null-Linien-EEG an der Hirnoberflache bekommt, wenn man vom Rachen aus ganz andere Partien des Gehirns misst, dass da durchaus noch Restaktivitäten sein können. Das alles sagt nur, wie schwierig es ist, wirklich die Behauptung aufzustellen, alles ist ausgefallen.

Sprecher:

Selbst wenn die Untersuchungen zur Bestimmung des Hirntodes so seriös und umfangreich geschehen, wie sie medizinisch und gesetzlich vorgeschrieben sind, bleiben gewisse Restzweifel, wie es um die Schmerzempfindungsqualitäten eines Hirntoten bestellt ist, insbesondere in der Situation, wenn die Organentnahme erfolgt.

O-Ton, Gisela Meyer (www.initiative-kao.de):

Es ist nachgewiesen, dass der Blutdruck steigt unter dieser Operation, dass die Herzfrequenz steigt, dass die Patienten schwitzen, dass sie sich bewegen, es sind eindeutige Lebenszeichen da, die nur in diesem Fall, wo sie nicht sein dürfen als Reflexe bezeichnet werden. Aber selbst Reflexe gehören zum Leben und nicht zu einer Leiche, nicht zu Toten.

Musikalisches Intermezzo

Sprecherin:

Die Medizin bietet Erklärungen an, zum Beispiel für die so genannten Lazarus-Zeichen, also dass ein Hirntoter spontan die Arme hebt, sich im Bett aufrichtet oder die Beine wie zum Gehen bewegt. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung schreibt in ihrer Informationsbroschüre zur Organspende dazu:

Zitator:

"So irritierend derartige Phänomene sein mögen. Sie entstehen zweifelsfrei außerhalb des Gehirns auf der Ebene von Rückenmark, Nerven und Muskulatur und haben mit dem personalen Leben des Menschen nichts zu tun und weisen auch nicht auf Schmerzempfindungen hin."

Sprecher:

Gleichwohl stößt man auf gewisse Widersprüche zwischen grundsätzlicher Erklärung und konkreter Praxis. Das Gesetz schreibt im Anschluß an die medizinische Mehrheitsauffassung nicht vor, dass eine Organentnahme unter Narkose geschehen muss. Einige Anästhesisten geben bei der Organentnahme aber nicht nur Medikamente zur Entspannung der Muskulatur, sondern darüber hinaus auch Schmerzmittel, hier wird also unter Narkose explantiert. Wer sich für eine künftige Organspende entscheidet, und eine Narkose möchte, der bzw einer seiner Angehörigen müsste dies jedoch eigens fordern.

Sprecherin:

Neben den diagnostischen Fragen, die insbesondere der Empfindungslosigkeit des hirntoten Menschen gelten, gibt es grundsätzliche Einwände auf einer anthropologischen Ebene. Sie betreffen das Verständnis von Menschsein, das mit dem Hirntod-Konzept verknüpft ist. Ist es gerechtfertigt, die Definition des menschlichen Lebens so eng an das Gehirn zu knüpfen, dass man zu der Konsequenz gelangt: Ist das Gehirn tot, so hat man eine Leiche vor sich. Die Kulturwissenschaftlerin Anna Bergmann (http://homepage.uibk.ac.at/homepage/c603/c603167/) spricht in dem Buch mit dem Titel Herzloser Tod von einer Verengung des Lebens- und einer unzulässigen Ausweitung des Todesbegriffs.

Sprecher:

Es scheint, dass mit dem Hirntod-Konzept die alte Teilung des Menschen in Geist und Körper aufs neue festgeschrieben wird, die der Philosoph Descartes dem Denken der Neuzeit zugrunde legte. Descartes fand allein im Cogito, im Bewusstsein, das Wesentliche des Menschen, wohingegen der Körper nur ein maschinelles Zubehör darstelle. Liefert die Medizin eine moderne Fortsetzung dieses Denkens, indem sie das Gehirn für substantiell erklär, während andere Organe nur austauschbare Teile seien?

Heiner Smit von der Deutschen Stiftung Organtransplantation verteidigt die geltende Hirntod-Konzeption.

O-Ton, Heiner Smit:

Durch den Ausfall der Hirnfunktionen zerbricht ja diese Gesamtheit des Lebewesens Mensch. Diese Gehirn-Körper-Aufteildebatte, ..., ist in der Kritik nicht Ziel führend, denn gerade das Gehirn fügt Geist und Körper zusammen und ist die körperliche Voraussetzung dafür, dass diese Geist-Körper-Funktion auch ineinander verzahnt bleibt. Man kann, glaube ich, die Wichtigkeit des Gehirns nicht daran diskutieren, dass sie 3 Prozent des Körpergewichts ausmacht, das wäre sicherlich zu kurz gesprungen, sondern man muss immer schauen, welche Aufgaben hat dieses Gehirn für den geistigen Menschen und welche Aufgaben hat dieses Gehirn für den körperlichen Menschen. Und welche Verzahnung findet dort statt, und es gibt keine andere Körperfunktion, die eben eine ähnlich zentrale Aufgabe hat wie das Gehirn, und wenn alle Gehirnfunktionen erloschen sind, dann ist das Lebewesen Mensch in seiner Verzahnung und Ganzheit nicht mehr existent.

Sprecherin:

Die wichtige Rolle des Gehirns ist unumstritten, aber zwei Bestimmungen, die das Hirntod-Konzept vornimmt, sind problematisch. Zum einen die Zuschreibung, dass erst das Gehirn die Einheit des Organismus und die Ganzheit des Menschen verbürge. Dagegen wenden Biologen ein, man könne nicht ein Organ zum Zentralorgan erheben. Schließlich zerbreche der Organismus ebenso, wenn Herz, Lunge oder Leber ausfallen.

Sprecher:

Die andere Auszeichnung des Gehirns, da es die Bewussteinsleistungen trage, mache es den Menschen erst zu einer Person im eigentlichen Sinne ruft philosophische Einwände hervor. Wird hier nicht das menschliche Wesen zu sehr auf den Kopf reduziert? Die Tradition sprach dem Menschen Personalität in einem grundsätzlichen Sinne zu. Denn wenn man den Personenbegriff von Bewusstseinsleistungen abhängig macht, gerät man in bedenkliche Gewässer. Dann nämlich stünden auch andere Patienten in einem Zwielicht, wie Professor Linus Geisler erläutert:

O-Ton, Linus Geisler (www.linus-geisler.de):

Hier sehe ich die Schwierigkeit darin, am Bewusstsein des Menschen seine Personhaftigkeit, sein Leben festzumachen. Denn dann wird es sehr schwierig wenn man graduelle Betrachtungen anstellt, zum Beispiel zu fragen, warum ist dann jemand, der im Wachkoma liegt, der also nach unseren heutigen Vorstellungen keine Bewusstseinsinhalte im klassischen Sinn hat, warum ist der eigentlich noch zu den lebenden zu zählen, oder das anenzephal geborene Kind - Kinder, die ohne ein Großhirn zur Welt kommen und kurze Zeit leben. Also hier gibt es Abgrenzungsschwierigkeiten.

Sprecherin:

Die Diskussion, ob man anenzephal geborene Kinder zur Organspende heranziehen darf, flammt immer wieder auf. Genügt ein Teilhirntod - das Fehlen des Großhirns - als Todeskriterium. Auf diese Weise würde die Definition des Todes, so die Kritiker, noch weiter aufgeweicht zugunsten von Organspenden. Das ist eine Entwicklung, die vor allem in Deutschland nach den nationalsozialistischen Verbrechen der Euthanasie höchste Wachsamkeit verlangt.

Sprecher:

Selbst Verteidiger des Hirntod-Konzeptes, wie der Philosoph Dieter Birnbacher bezeichnen eine Freigabe des anenzephal Geborenen zu Organentnahme als eine Instrumentalisierung des Schwächsten und Verletzlichsten.

In der Frage Hirntod und Organspende sich zu informieren und auch sich schriftlich zu äußern, ist notwendig. Besitzt man in Deutschland keinen Organspendeausweis - und den haben die wenigsten - wird die Frage der Organspende an die Angehörigen gerichtet. Doch schon im EU-Ausland ist die rechtliche Situation anders und von Land zu Land verschieden. In Österreich etwa, können Patienten, d.h. auch Touristen - die keine schriftliche Ablehnung einer Organspende bei sich tragen, automatisch als Organspender angesehen werden, sofern der "Hirntod" festgestellt wird. Wer das nicht möchte, - muss sich eigens in ein österreichisches Widerspruchsregister eintragen lassen.

Sprecherin:

Auch in Frankreich können Patienten, die keine schriftliche Ablehnung einer Organspende bei sich tragen, automatisch als Spender betrachtet werden. Allerdings müssen die Angehörigen informiert werden und sie haben ein Einspruchsrecht gegen die Organentnahme.

Sprecher:

In Deutschland ist meist den Angehörigen die Last der Entscheidung aufgebürdet. Nur die wenigsten Transplantationen erfolgen auf der Basis eines vorliegenden Organspendeausweises, - im Jahr 2001 waren es 5% der Transplantationen - der Riesenanteil geschah aufgrund der Zustimmung der Angehörigen, die sich laut Gesetz am mutmaßlichen Willen des Betroffenen orientieren müssen. Jürgen Meyer schildert, in welche Zwangsituation vor allem Eltern geraten, selbst wenn man im Krankenhaus sensibler reagiert als 1997 beim Tod seines Sohnes.

O-Ton, Jürgen Meyer (www.initiative-kao.de):

Auf Grund der Erfahrungen und der Kenntnisse, die wir inzwischen gewonnen haben, möchte ich sagen, dass bestimmte Grundsituationen einfach da sind, und denen ist jeder ausgesetzt, auch wenn das geschickter gehandhabt wird.

Zum Beispiel dass man sich als Eltern in einer bestimmten Zwangssituation befindet, und weil man Schuldgefühle hat, wenn das Kind stirbt, wo man sich selbst als der Beschützende sieht, dass man da versagt hat, auch wenn man objektiv keine Schuld hat, sind diese Versagensgefühle und Schuldgefühle da. Und in dieser Situation, in der man meistens auch noch im Schock ist, wird einem dann angeboten: hier, ‚Du kannst noch Leben retten', d.h. umgekehrt formuliert: wenn du nicht zusagst, dann stirbt noch einer. D. h. man wird praktisch in Mithaftung für den Tod eines unbekannten Dritten genommen.

Sprecherin:

Auch die Ärzte sind nicht frei. Sie sind darauf verpflichtet zu helfen, aber sie sollen auch das mögliche Wohl Dritter nicht vergessen. Sobald der Hirntod festgestellt ist, betrachtet die Institution Klinik den Patienten als potentiellen Spender. Ihr Interesse verschiebt sich, noch bevor die Angehörigen eine endgültige Entscheidung getroffen haben. Der Hirntote wird damit ein Mittel zum Überleben Dritter. Dieser Widerspruch bedrückt manche Ärzte, insbesondere aber Krankenschwestern und Pfleger, die ihn betreuen.

O-Ton, Roberto Rotondo:

Auf einer Intensivstation, wie ich das kennengelernt habe, kann man ganz persönlich die Menschen - also Hirntote - behandeln wie Komatöse. Also man pflegt sie genau so, man muss sie auch genau so pflegen, weil die Pflege ein Organerhalt ist, darauf ausgerichtet, - das ist eine Kopfsache, da muss man drüber nachdenken, wenn man es tut - dass man diese Tätigkeit nicht macht für den Menschen, der vor einem liegt, sondern man macht die jetzt für einen potentiellen Transplantierten, also für irgendeinen, der auf ein Organ wartet, aber der Mensch, der vor einem liegt, den man waschen muss, Mundpflege machen muss, der bekommt eine ganz spezielle Pflege, die nennt sich Spenderkonditionierung - das ist ein Fachbegriff, und alles ist darauf ausgerichtet, dass man möglichst viele Organe erhält, alles was man nehmen kann, soll dann auch in einem guten Zustand bleiben.

Musikalisches Intermezzo

Sprecher:

Mit der Todesdefinition des Hirntods hat sich die Gesellschaft- selbst wenn der Zweck Organspende Respekt verdient- schwerwiegende Tabubrüche aufgeladen. Die Organentnahme ist zwar durch das Transplantationsgesetz rechtlich legitimiert, es bleibt aber der bedrückende Sachverhalt, dass die Organentnahme, d.h. die Operation selber, den Herzstillstand herbeiführt. Und darüber hinaus bewegen sich auch die diejenigen, die einen Hirntod als Todeskriterium akzeptieren, am Rande einer Pietätsverletzung gegenüber dem Verstorbenen, so argumentieren Kritiker wie Professor Linus Geisler.

O-Ton, Linus Geisler (www.linus-geisler.de):

In jeder Kultur, sei es Buddhismus, Hinduismus, in den verschiedensten kulturellen Bezügen gibt es etwas überaus Gleichförmiges, das nach dem Eintritt des Todes, oder das was als Tod anerkannt wird, so eine zeitliche Tabuphase da ist, wo man mit dem Toten erst mal nichts machen darf. Im Tibetischen heißt es, man sollte ihn wenigstens so lange in Ruhe lassen, bis man eine Tasse Tee trinken kann, dann kann man vielleicht hergehen und ihn herrichten und rituelle Dinge mit ihm vornehmen. Das hat einen tiefen Sinn, weil hier wirklich die Zäsur des menschlichen Lebens stattgefunden hat. Und die verdient einen hohen Respekt. Und es wurde nicht zu Unrecht gesagt, der Umgang einer Kultur oder Zivilisation mit ihren Toten ist ein gutes Beispiel dafür welche Bezüge sie zu ihren Lebenden hat.

Das ist einfach praktisch unmöglich, wenn jemand hirntot ist, und wenn er freigegeben ist von den Angehörigen oder aufgrund seines Spenderausweises, dann gibt es diese Verabschiedung nicht in einem stillen Raum nicht, denn er muss ja in der Intensivstation bleiben und die Gesamtheit dieser pflegerischen Maßnahmen müssen durchgeführt werden.

Sprecherin:

Der Hirninfarkt, der Hirntod, reißt die Menschen oft plötzlich aus dem Leben. Geschieht es nicht nach einer Hirnerkrankung sondern infolge eines Unfalls, konnte der Betroffene sich überhaupt nicht auf den Tod vorbereiten. Ebenso unvermittelt und jäh trifft es dann die Angehörigen. Umso drängender stellt sich ihnen die Frage: Kann man bei dem vertrauten Menschen wachen, der so lebendig aussieht, auch wenn ihn die Ärzte bereits für tot erklären.

Auch die Deutsche Stiftung Organtransplanation weiß um diesen sensiblen Punkt. Heiner Smit ist mit der Aus- und Weiterbildung der Koordinatoren für Organverpflanzung befasst, die manchmal vor Ort zum Gespräch zwischen Ärzten und Angehörigen hinzugezogen werden.

O-Ton, Heiner Smit:

Ich kenne aus der eigenen Erfahrung sehr viele Situationen, in denen Angehörige natürlich im ersten Schock sehr irritiert sind, über das was sie sehen, aber dass sie das dann, wenn man es ihnen erklärt, dass sie das alles gut einordnen und begreifen können, dass der Tod eingetreten ist, und dann eine Entscheidung fällen. Das bedeutet, die erste Abschiedsphase der Angehörigen von dem Verstorbenen ist vor der Organentnahme eingeleitet durch Gespräche am Bett, durch Verweilen am Bett, durch Erklären der Phänomene, um die es geht, und für sehr viele Angehörige ist das der Moment der Abschiednahme.

Andere Angehörige wünschen, und das ist ihnen auch von Gesetzes wegen zugestanden, den Verstorbenen nach der Organentnahme noch einmal zu sehen. Auch das ist dann möglich. Und das ist für die Angehörigen, die das wünschen die zweite Phase der Abschiednahme.

Die dritte und für alle gemeinsame Phase der Abschiednahme ist die Aufbahrung des Leichnams in der Leichenhalle, bevor es dann zur Beerdigung geht.

Sprecher:

Heiner Smit weiß aber auch, dass im Abschiednehmen eine schmerzliche Lücke bleibt. Angehörige müssen einen vertrauten Menschen, der sehr lebendig wirkt, - warm, atmend, mit rosiger Haut - zurücklassen und erhalten, wenn sie überhaupt dazu bereit und in der Lage sind, nach der Organentnahme einen kalten, leichblassen, nun auch dem Augenschein nach Toten zurück.

Lassen sich die Organentnahme nach Hirntod und das Bedürfnis nach einem begleiteten Sterben in Würde überhaupt in Einklang bringen?

Gisela Meyer schließt dies aus:

O-Ton, Gisela Meyer (www.initiative-kao.de):

Es ist ein eklatanter Widerspruch zwischen begleitetem Sterben in Würde und Organentnahme, das kann man nicht auf einen Nenner bringen. Was ich mir vorstellen könnte, ist, dass die Aufklärung umfassend wird, ...und dass dann der einzelne Mensch für sich entscheiden kann, ich will das mit mir machen lassen, vielleicht - meine Bedingung ist: nur unter Narkose.

Und dass die anderen die Möglichkeit haben zu sagen: ich möchte auf ein begleitetes Sterben nicht verzichten. Dass das ehrlich in die Öffentlichkeit kommt, und das haben wir auch in vielen Gesprächen mit Transplantationsmedizinern gesagt, die wir auf dem Kirchentag angetroffen haben, aber auch schon aufgesucht haben, darum haben wir gebeten:

Klären Sie wirklich auf, mit dem was wirklich getan wird, und dann haben wir wiederholt zur Antwort bekommen, dann kriegen wir keine Organe mehr.

Musikalisches Intermezzo

Sprecherin:

In der Informationsbroschüre der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist zwar inzwischen Meyers Initiative im Anhang aufgeführt, aber es fehlen im Text selber kritische Stimmen. Im Grunde ist schon der Organspendeausweis, den die Broschüre zum Ausfüllen anbietet, missverständlich. Die entscheidende Formulierung ‚nach meinem Tod' enthält keinen Hinweis darauf, dass mit Tod eben auch der weiterhin umstrittene Hirntod gemeint sein kann. Immer noch unterstellen weniger informierte Menschen das traditionelle Todeskriterium, also den Herztod, als Voraussetzung,

Weiterhin äußert sich die Broschüre auch nicht zu der Frage, wie eine Erklärung zur Organspende mit anderen Willensbekundungen im Verhältnis steht. Linus Geisler, Mitglied der Enquete-Kommission ‚Ethik und Recht der modernen Medizin' sieht hier ungelöste Widersprüche.

O-Ton, Linus Geisler (www.linus-geisler.de):

Es ist interessant, ... dass heute immer mehr Menschen Patientenverfügungen erstellen oder erstellen wollen, die alle die Absicht haben, dass wenn sie selber nicht mehr entscheiden können, dass in ihrem Sterben nichts Unnötiges, nichts Zuviel, nichts zu Belastendes gemacht wird. Und nun gibt es gar nicht so selten Kollisionsfälle, wo Menschen bereits einen Organspendeausweis haben und eine Patientenverfügung ausstellen möchten, und denen muss man ganz klar sagen: das beißt sich absolut. Also Organspender zu sein, heißt im Sterben eine Maximalmedizin zu tolerieren, die genau das Gegenteil dessen ist, was in der Patientenverfügung intendiert wird, nämlich das Sterben in Ruhe.

Sprecher:

Stimmt jemand einer Organspende zu, verdient diese Haltung Anerkennung und großen Respekt. Die Leitungen beider Kirchen ließen sich vom Hirntod-Konzept überzeugen und haben die Organspende auch unter diesen Umständen als Akt der Nächstenliebe und Solidarität gutgeheißen.

Sprecherin:

Viele kranke Menschen warten auf ein Organ, das ihnen ein Weiterleben ermöglicht oder zumindest ihr Leiden verringert. Ende 2001 standen über 11.000 Menschen auf der Warteliste von Eurotransplant, jener gemeinnützigen Stiftung, der die Transplantationszentren verschiedener europäischer Länder, unter anderem Deutschland angeschlossen sind. Dieser Zahl Bedürftiger standen fast 4000 erfolgte Transplantationen gegenüber, d.h. nur jeder Dritte auf der Warteliste erhielt ein Organ.

Bei diesen Zahlen muss man allerdings differenzieren. 9 von 10 Bedürftigen warteten auf eine Niere, die ja auch über Lebendspende verpflanzt werden kann.

Sprecher:

Um die Kluft zwischen Bedarf und Angebot zu schließen, wirbt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit Kino- und TV-Spots, Anzeigenkampagnen und Ausstellungen für die Organspende. Nach Jahren der Stagnation stieg die Zahl der erfolgten Transplantationen insbesondere bei Nieren im vergangenen Jahr deutlich an, aber bei Herztransplantationen sinkt sie seit Jahren.

Sprecherin:

Über den bloßen statistischen Zahlen stellt sich jedoch die Frage: Wie geht es eigentlich den Empfängern? Die Informationsbroschüre mit dem verheißungsvollen Titel ‚Wie ein zweites Leben' schweigt sich darüber aus, mit welchen Schwierigkeiten, auch Ängsten und Schuldgefühlen Organempfänger oft zu kämpfen haben.

Roberto Rotondo, Psychologe und Krankenpfleger im Erstberuf, schildert die Situation des Empfängers.

O-Ton, Roberto Rotondo (www.robertorotondo.de):

Man kriegt einen Anruf, man weiß nie wann es passiert, und dann geht es sehr schnell, und dann wacht man auf, und man weiß es: jetzt ist ein Mensch gestorben. Und viele meinen für sie, was ja so eins zu eins gar nicht ist, dass da jemand für jemand anders gestorben ist, sondern es ist einfach passiert, und damit haben wohl viele Transplantierte im Nachhinein zu tun, dass sie diesen Wunsch vorher hatten, und dass sie dann Schuldgefühle entwickeln, dass es wirklich passiert ist, ... dass sie sich Gedanken machen, von wem habe ich das eigentlich: Sie phantasieren sich ihren Spender. ..

Ich habe einen Therapeuten kennen gelernt, Albert, er arbeitet im Herzzentrum in Berlin und der sagte, dass die Menschen, die bei ihm in Behandlung sind, fünf Jahre brauchen, um das Organ als eigenes in die Psyche zu integrieren. Also nicht nur körperlich, dann ist das schon längst verheilt, sondern dass man das in die Psyche integriert als eigenes und dass man das so lange als Fremdkörper wahrnimmt - manchmal spürt man es rein körperlich, aber eben auch psychisch.

Sprecher:

Physisch bekämpft man inzwischen einigermaßen erfolgreich mit Medikamenten die Abstoßungsreaktionen des Organismus gegenüber dem fremden Organ. Aber auch auf der psychischen Ebene findet eine Grenzaufhebung zwischen zwei Personen statt, und dies ist ein problematischer Vorgang, der auch seelisch bewältigt werden muss. Wie lebt eine Frau mit dem neuen Herzen eines Mannes oder umgekehrt? Entstehen hier Identitätskonflikte?

Musikalisches Intermezzo

Sprecherin:

Das Gesetz sucht durch die Auflage strenger Anonymität beide Seiten zu schützen. Der Empfänger der Organe kennt nicht den Spender, dessen Angehörige erfahren umgekehrt nicht den Namen des neuen Trägers. Trotzdem gibt es Schilderungen von Transplantierten, dass sich ihr Geschmack, ihr Eßverhalten oder bestimmte Vorlieben verändert haben. Sie schreiben diese seltsamen Verhaltensänderungen dem Organ des anderen zu.

Sprecher:

Können Organe persönliche Eigenschaften enthalten und übertragen? Das scheint für ein naturwissenschaftlich aufgeklärtes Denken schwer nachvollziehbar.

Umso plausibler dünken psychologische Erklärungsversuche. Es könnte sein, dass der Empfänger mit der Verhaltensänderung unbewusst eine Schuld beim Spender abträgt, auch wenn er ihn gar nicht konkret kennt. Der Empfänger räumt dem unbekannten anderen gleichsam ein Gastrecht bei sich ein, sagt: ‚Schau, Du lebst ein Stück in mir weiter, nicht nur als Organ, sondern mit Deiner persönlichen Eigenart.'

Sprecherin:

Auch auf Seiten eines potentiellen Empfängers gilt es deshalb abzuwägen, ob er sich auf eine Organtransplantation einlassen will. Nierenpatienten verbleibt nach wie vor die allerdings beschwerliche und leidvolle Möglichkeit der Dialyse. Doch wie steht es um Menschen, die nur mit einem anderen Herzen, einer Leber, einer Lunge weiterleben können?

O-Ton, Roberto Rotondo (www.robertorotondo.de):

Die ganz einfache und schnelle Antwort wäre: Den Tod akzeptieren. Dann hätte man viele Probleme nicht, dann würden Menschen sterben, - das klingt jetzt hart, die auf einer Warteliste stehen und das jetzt hören, die würden aufschreien und sagen, was erzählt der da, der hat ja gar keine Ahnung, wenn er einmal selber auf der Warteliste steht, würde er es anders sehen. Vielleicht, würde ich antworten, vielleicht würde ich es anders sehen, ich würde mir wünschen, dass ich bei meiner Haltung bleibe, ich habe ein Papier wo draufsteht, ich bin kein Organspender und möchte auch kein Organ haben. Ich will schon zugestehen, dass ich in der Notsituation - ich habe Familie - vielleicht anders reagieren würde, ich weiß aber was mir passieren könnte, psychisch und ich würde mir wünschen dass es anders wäre. Nun hat man diese Möglichkeiten und die machen Druck.

Ich persönlich würde dafür sein, dass man es lässt. Wenn ich diese Möglichkeit nicht hätte, würde ich in diese Situation gar nicht kommen, ich müsste mich mit meinem Tod auseinandersetzen mit meinem Sterben, wenn es denn anstehen würde.

Zitator:

Wir sind alle zum Tode gefordert, und es wird keiner für den andern sterben, sondern jeder muß in eigner Person geharnischt und gerüstet sein, mit dem Tode zu kämpfen. - Wir können wohl einer den andern trösten und zu Geduld, Streit und Kampf ermahnen, aber kämpfen und streiten können wir nicht für ihn, sondern es muß jeder selbst auf seiner Schanze stehn und sich mit den Feinden, dem Teufel und Tode messen, allein mit ihm im Kampf liegen.

Sprecher:

Martin Luther erinnert daran, dass der Tod unausweichlich einen jeden selbst angeht und ihm das Leben abfordert. Luther spricht aber auch davon, dass die anderen - wenn schon nicht mitkämpfen - uns doch Kraft geben können in diesem letzten Streit. Durch ihre Nähe, indem sie bei uns sind.

Sprecherin:

In früheren Jahrhunderten waren die Sterbenden nie allein.

Die zeitgenössische Kunst widmete zahlreiche Bilder jener Szene, in der die Großfamilie um das Sterbebett versammelt ist: Das Leben des Familienoberhauptes geht zuende, wir sehen den feierlichen Lebensabschluss und Abschied von den Seinigen, wir sehen die schmerzhafte Erschütterung der zurückgelassenen Gemeinschaft. Es war ein höchst bewegender, ja ein feierlicher Augenblick für die Familie.

Gegenwärtig geschieht das Sterben oft einsam, es verbannt den Menschen ins gesellschaftliche Abseits der Kliniken und Heime, Tod und Sterben sind tabuisiert und so weit verdrängt, dass es manchen Angehörigen heute beinah peinlich erscheint, dabei zu sein.

Sprecher:

Gegenbewegungen sind gleichwohl da: die Hospizbewegung kämpft für einen humanen Umgang mit dem Tod, für ein Lebensende in Würde. Die Aidshilfe-Gruppen haben die gesellschaftliche Sprach- und Gestenlosigkeit überwunden, hier redet man offen über Sterbenmüssen und Lebenwollen. Und auch innerhalb der Medizin findet ein Umdenken statt. Der noch junge Zweig der Palliativmedizin will dort, wo man nicht mehr heilen kann, alle Möglichkeiten ausschöpfen, vor allem Schmerzmittel anbieten, um dem Menschen ein selbst bestimmtes Lebensende in Würde zu ermöglichen.

O-Ton, Gisela Meyer (www.initiative-kao.de)

Ich wünsche mir, dass respektiert wird, dass der Mensch, der jetzt stirbt, alles das, was er benötigt, braucht, bekommt, von ärztlicher Seite, einen sensiblen Umgang, man weiß, dass Sterben ein sensibler Prozess ist, und ich wünsche mir, dass gesehen wird, was brauchen Angehörige in einer solchen Situation, wenn Sie im Begriff sind, nahe stehende Menschen, zum Beispiel das Kind zu verlieren. Und das sind ganz andere Bedürfnisse als das, was Ärzte im Hinblick auf Transplantation sehen, und das wünsche ich mir: Dass dieser Respekt vor einem Sterbenden und vor Angehörigen Priorität hat, und dass dafür auch Zeit zur Verfügung gestellt wird.

Und auch wenn jemand gestorben ist, dass Zeit zum Abschied nehmen ist, Zeit zum Wahrnehmen.

Es passiert ja auch - wenn jemand nach unserem Verständnis wirklich gestorben ist, wenn die Todeszeichen eintreten - dass auch dann noch einmal eine Veränderung stattfindet, und eine Veränderung, die auch tröstlich sein kann, weil man dann in ein entspanntes Gesicht schaut.

Musik zum Ausklang
Mehr Informationen zum Hirntod finden Sie hier.


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update: 23.11.2004    by: Roberto Rotondo