Veranstaltung »Behütetes Sterben und Organspende - vereinbar oder nicht?« vom 26. Mai 2005
Gisela Meyer, Bad Bodendorf
Vortrag: Das habe ich nicht gewusst.
Organspende, dachte ich, muss etwas Gutes sein, wenn es Anderen hilft. Und
natürlich ist der Mensch tot, dem die Organe entnommen werden. Im Ausweis
steht doch "nach meinem Tod"
Dass Ärzte nicht davor zurück schrecken, einen sterbenden Menschen im
Hirnversagen, dem sog. Hirntod, mit allen Mitteln ärztlicher Kunst am Leben
zu halten, damit sie seine lebenswichtigen Organe bekommen, hätte ich nicht
für möglich gehalten. Ein Hirntoter ist ein noch lebender Mensch, das möchte
ich hier bezeugen.
Was passierte bei uns?
Im Jahre 1991 verunglückte unser Sohn Lorenz. Er war ein 15 jähriger Junge,
so groß geworden, witzig, voller Lebenskraft und -freude, kräftig und schön.
Beim Ski fahren hatte er sich eine schwere Kopfverletzung zugezogen. Sein
Gesicht, alles, sah völlig unverletzt aus. Das einzig Bedrohliche war die
künstliche Beatmung. Ich konnte nur das eine glauben: Er würde die Augen
wieder aufmachen. Dafür betete ich inbrünstig.
Nach einer durchwachten Nacht teilte mir der Arzt auf dem Flur mit, mein
Sohn sei tot, wir möchten bitte überlegen, ob wir Organe spenden könnten.
Gebraucht würden Herz, Leber, Nieren, Augen und bis zum nächsten Morgen
müßten wir uns entschieden haben - und weg war er. Über mich kam für einen
Moment ein großes Zittern, dann war alles wie ausgelöscht.
An unserem Sohn hatte sich für uns nichts verändert. Er wurde weiter
gepflegt, seine volle Urinflasche wurde geleert, er bekam einen
vorübergehenden Hautaufschlag, er bewegte sein Bein auf Berührung hin, er
bekam weiter Medikamente, natürlich zu seiner Heilung, so dachte ich.
Ich wachte weiter, hielt seine warme große Hand und streichelte ihn.
Erst später erfuhr ich, dass bereits zu diesem Zeitpunkt, als der Hirntod
noch nicht einmal festgestellt war, seine Pflege und die Medikamente schon
nicht mehr ihm galten. Er war in den Augen der Ärzte nicht mehr der Mensch
Lorenz, sondern ihr Blick sah in ihm Material zur Weiterverarbeitung.
In seinen Unterlagen, an die wir nur mit Hilfe eines Rechtsanwaltes kamen,
hört sich das so an:
"Die Eltern sahen dann den Körper des verstorbenen Patienten, der aber
weiterhin künstlich beatmet wurde bei spontaner Herzfrequenz." "Es scheint,
dass die Eltern nicht verstanden, dass, als sie ihren Sohn gesehen haben,
dieser bereits tot war".
Wir also waren die Dummen! Doch wir nahmen wahr, was wahr war, nämlich unser
lebendes Kind, und wir hofften nach wie vor auf seine Heilung.
Wir wurden weiter mit der Frage nach Organen gequält. Wie in einem
Schraubstock fühlte ich mich, der sich immer enger um mich zog. Schließlich
willigte ich in die Freigabe der Nieren mit ein, aber auch da ging der
Druck nach den anderen Organen weiter. Mehrfach kam zuletzt die Frage nach
den Augen, bis mein Mann schließlich schrie "Nein, Nein!"
Diese Entscheidung für die Nieren hatten wir getroffen in der Meinung, dass
die Entnahme nach dem Abstellen der Apparate erfolge. Erst danach erfuhren
wir, dass das nicht ginge. Weiter wurden wir nicht aufgeklärt, waren aber
auch selbst unfähig Fragen zu stellen. Man vertröstete uns damit, wir
könnten später Abschied nehmen, das Kind würde sogar auf Station aufgebahrt.
Es hat mich lange gequält, dass ich nicht spätestens an dieser Stelle die
Ärzte verjagt und Partei für mein sterbendes Kind ergriffen habe.
Das ich die Ärzte nicht verjagt habe lag daran, dass ich mich in einem
völligen Zusammenbruch mit großen Schuldgefühlen am Unglück meines Kindes
befand. Und dann sollte ich auch noch schuldig werden am Tod anderer, wenn
ich nicht nach gab. Ich begriff nicht, was da geschah, fühlte mich
ausgeliefert, war im Schock, handlungsunfähig und Schutz bedürftig.
Selbst der Krankenhausseelsorger nahm meine Not nicht wahr. Seinem
eigentlichen seelsorgerlichen Auftrag, uns und unser Kind zu begleiten kam
er nicht nach. Ich spürte was er von mir erwartete. Er diente den Ärzten und
unbekannten Dritten und nicht uns, seinen Nächsten.
Als wir später ins Krankenhaus zurück kamen, hatte ich das Gefühl, jetzt
sehe ich Lorenz wieder und der Alptraum ist vorbei. Doch es folgte ein
weiterer Schock. Die Dienst habende Schwester wusste nichts von uns und dem
Versprechen, das Kind auf der Station aufzubahren. Nur weil wir erstarrt wie
angewurzelt stehen geblieben waren, wurden wir nach langer Wartezeit in den
Leichenkeller gelassen.
Dort erkannte ich meinen Sohn zunächst nicht. Beim näher treten durchfuhr es
mich, der hat ja Schmerzen gehabt! Sein Gesicht war ganz klein geworden,
seine vollen Lippen schmal und zusammen gebissen. Die Augen großflächig
verklebt, die Haare nass. Hatten sie ihm doch die Augen weggenommen? Ich
wollte nachsehen, doch daran hinderte mich mein Mann, der in Panik geraten
war und mich wegzog. Wir rannten vor unserem entstellten Kind davon, stumm,
ohne Abschied, voller Schuldgefühle.
In Lorenz `Akte lasen wir, dass er eine Lokalanästhesie bekommen hatte.
Hatte er sich bei der Operation bewegt? Hatte der Arzt gemerkt, dass er mit
Schmerzen reagierte? In seinem Sterben war ihm noch Schlimmes widerfahren.
Ich habe privat und beruflich Sterbende begleitet und Tote gesehen. Ich
weiß, dass im Sterben noch viel passiert. Ich glaube den Behauptungen, dass
ein sog. Hirntoter nichts mehr empfindet, nicht, nach dem ich in das Gesicht
meines jetzt wirklich toten Kindes gesehen hatte.
Was mich so empört: Durch die Organentnahme habe ich meinem Sohn in den
letzten Stunden seines Lebens nicht zur Seite stehen können. Welche Mutter
würde ihr Kind im Krankheitsfall verlassen? Ich muss damit leben, dass ich
es im Sterben im Stich gelassen habe. Lorenz selbst konnte nicht mehr rufen,
bleib bei mir. Meinem Bruder, der zwei Jahre zuvor gestorben war, konnte
ich diesen Wunsch erfüllen. Er sprach ihn noch aus und ich versprach es ihm.
Bei seinem Sterben konnte ich erfahren, wie viel Trost von einer würdevollen
Begleitung ausgeht und wie sehr es in der Trauer hilft, einem Menschen die
letzen Liebesdienste erwiesen zu haben. Auch geht am Ende oft eine Ahnung
davon aus, dass das Leben mit diesem Leben nicht beendet ist. Das alles hat
in der Transplantationsmedizin gar keinen Stellenwert.
Was mich so empört: Uns wurde der letzte kostbare Abschied geraubt, und wir
haben ihn uns rauben lassen. Dabei ist Abschied nehmen doch schon hier im
Leben ganz wichtig. Wer würde sein Kind auf Reisen schicken ohne sich von
ihm zu verabschieden? Wie viel mehr ist es ein Urbedürfnis, ein Kind beim
endgültigen Abschied ein letztes Mal in den Arm zu nehmen.
Was mich so empört ist die Scheinheiligkeit: In den Gesangbüchern der
christlichen Kirchen gibt es Texte für die Begleitung Sterbender bis
zuletzt. In öffentlichen Reden der Kirchenvertreter treten diese dafür ein,
den Weg eines Sterbenden mitzugehen bis zu letzt. ( Bischof Lehmann ) Wieso
lassen sie bei Organtransplantation zu, dass der Mensch in seinem
schwächsten Moment so entwertet und entwürdigt wird?
Was mich so empört ist die Grausamkeit: Obwohl man weiß, das Sterben ein
sensibler Prozess ist, obwohl man normalerweise alles tut, um mit Menschen
in dieser Situation behutsam umzugehen, obwohl man ihre Schmerzen lindert,
und ihnen die Zusicherung gibt, sie nicht allein zu lassen, auch wenn sie
nicht mehr ansprechbar sind, wird bei der Organentnahme ein sterbender,
wehrloser Mensch auf die Trage gelegt, in den Operationssaal gefahren, in
vielen Fällen sogar in ein anderes Krankenhaus transportiert. Er wird unter
Aufrechterhaltung der Beatmung, der Herz-und Kreislauftätigkeit einem
entwürdigenden Akt ausgeliefert. Man nimmt ihm seine Würde vollends, in dem
man ihm auch noch den Namen nimmt und ihn zur Nummer macht.
Aus dem Menschen Lorenz Meyer wurde die Nummer LS 005-91. Zu seinem Ende
heißt es lapidar: "Einstellung der Herztätigkeit (durch kalte Perfusion)
und der künstlichen Beatmung".
Mich tröstet, dass die Hospizbewegung weltweit wächst und damit der Schutz
für sterbende Menschen. Ich hoffe, dass Ärzte die Organtransplantation als
Irrweg erkennen und ihren Sachverstand in andere Heilungswege investieren.
© Gisela Meyer, 2005
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