Veranstaltung »Behütetes Sterben und Organspende - vereinbar oder nicht?« vom 26. Mai 2005
Renate Focke
Vortrag: Persönlicher Bericht am Kirchentag (Mai 2005)
Ich bin Renate Focke. Das Foto zeigt meinen Sohn Arnd. Er hatte im Herbst
1997 einen schweren Unfall und starb ein paar Tage später. Er wurde 29 Jahre
alt. Einen geliebten Menschen zu verlieren, diese schlimme Erfahrung haben
sicher manche von Ihnen schon machen müssen. Darüber will ich jetzt nicht
sprechen. Sondern ich möchte von einer zusätzlichen Belastung berichten, die
mir und andern aufgebürdet wurde: Wir haben einer Organentnahme zugestimmt.
Einige Zeit nach seinem Tod wurde die Organentnahme zu einem Problem für
mich. Alpträume und Eindrücke aus der Zeit, als mein Sohn schwerkrank auf
der Intensivstation lag, bedrängten mich.
Wenn ich Aufnahmen von Menschen sehe, die eine Katastrophe überlebt haben,
wie sie blicklos vor sich hin starren oder durch die Gegend taumeln, denke
ich: "So ging es mir auch." Bilder tauchen auf vom Krankenbett und vom
Warteraum vor der Intensivstation. Ich funktionierte nur automatisch. Das
Unfassbare zu begreifen, nämlich dass mein Sohn im Sterben lag, ging über
meine Kraft. Noch viel weniger konnte ich mich mit Organentnahme
auseinandersetzen. Wenn ich Gefühle nach außen ließe und nachfragte und
wissen wollte, das wusste ich im Inneren, dann würde ich zusammenbrechen.
Deshalb blieben meine Wahrnehmungen, meine Gefühle und mein Verstand völlig
isoliert voneinander. Und in diesem Schockzustand, in dem ich nicht
entscheidungsfähig war, musste ich eine Entscheidung treffen. Jede
Unterschrift unter einen Vertrag kann rückgängig gemacht werden. Aber diese
eine Entscheidung, die das ganze weitere Leben betrifft, nicht!
Bei uns in Deutschland gilt die erweiterte Zustimmungslösung. Wir wurden,
weil mein Sohn keinen Organspendeausweis hatte, nach seinem mutmaßlichen
Willen gefragt. Er hatte zu seiner Frau, unserer Schwiegertochter, gesagt,
er würde Organe spenden. Das passte auch zu ihm. Deshalb fühlte ich mich an
seine mündliche Äußerung gebunden. Trotzdem war eine heftige innere Abwehr
da. Zu spät habe ich gemerkt warum.
Was wusste mein Sohn denn über Organspende?
Er hatte die in der Öffentlichkeit verbreiteten Informationen: Organspende rettet Leben. Die
Organe werden nach dem Tod entnommen. Und er war der Meinung: Wenn ich tot
bin, brauche ich meine Organe nicht mehr. Dann können andere Menschen damit
weiterleben. Das waren auch mein Wissensstand und meine Einstellung.
Er hatte gehört, dass der sogenannte "Hirntod" Voraussetzung für eine
Organentnahme ist. Aber er wusste nichts über die Auswirkungen, die eine
Organentnahme auf sein Sterben haben würde. Beim Hirnversagen wird der
Mensch bei künstlicher Beatmung im Leben gehalten. Alle medizinischen
Maßnahmen haben nach der zweimaligen "Hirntodfeststellung" allein das Ziel,
die Organe zu erhalten. Es ging nicht mehr um meinen sterbenden Sohn, nur
noch um die möglichen Empfänger. Das habe ich deutlich gespürt, konnte es
aber nicht ausdrücken.
- Zu spät habe ich erfahren, dass bei der Hirntoddiagnose auch Schmerzreize
getestet werden. Das heißt, wenn keine Schmerzreaktionen erfolgen, schließen
die Ärzte daraus, dass diese Gehirnregionen abgestorben sind. Aber niemand,
auch kein Arzt, kann mit Sicherheit ein Schmerzempfinden ausschließen.
- Zu spät habe ich erfahren, wie eine Organentnahme abläuft. Der "hirntote"
Patient wird weiter beatmet, aufgeschnitten und bei Herz- oder
Lungenentnahme aufgesägt. Bevor die Organe entnommen werden, wird das Blut
bei schlagendem Herzen durch eine Kühlflüssigkeit ersetzt. Diese soll die
Organe für die Empfänger konservieren. Und erst dann stirbt der "hirntote"
Patient zu Ende.
- Erst später habe ich erfahren, dass mein Sohn während der Explantation
keine Narkose und keine Schmerzmittel bekommen hat. Aber er hat Muskel
entspannende Medikamente erhalten, um mögliche Reflexbewegungen während der
Operation auszuschalten.
- Zu spät habe ich gemerkt, worauf wir verzichten mussten: Er auf ein
geschütztes Sterben, liebevolle Begleitung und auf körperliche
Unversehrtheit. Und wir, seine Familie? Auf einen ungestörten Abschied, der
uns die Trauer leichter gemacht hätte.
Es muss schwer sein, auf diese elementaren Rechte am Ende des Lebens bewusst
zu verzichten. Aber wie viel schwerer ist es, wenn man vorher gar nicht
informiert worden ist über diese Eingriffe in das eigene Sterben und den
letzten Abschied.
Und deshalb fordere ich umfassende und ehrliche Information darüber, was
Organentnahme für die Organspender und ihre Angehörigen bedeutet. Das sollte
in einer demokratischen Gesellschaft selbstverständlich sein. Doch so, wie
es jetzt gehandhabt wird, nutzt man die Schocksituation der Angehörigen aus.
Die Organtransplantation wird als "etablierte" Therapie beschrieben. Also
eine Behandlung, auf die jeder im Bedarfsfall Anspruch haben soll. Bevor
eine Therapie anerkannt werden kann, wird sie üblicherweise auf ihre
Auswirkungen hin untersucht. Das geschieht hier bei den Auswirkungen auf die
Organempfänger und bei den medizinischen Vorgehensweisen.
Doch wie ist es mit den Folgen für die Organspender und ihre Angehörigen?
Die Organspender können nicht mehr gefragt werden. Und wir Angehörigen? Um
unsere Zustimmung wurde gerungen, aber hinterher wurden wir nicht ein
einziges Mal gefragt. Unsere Erfahrungen werden nicht in die Auswertung
dieser Behandlung einbezogen. Nur wenn sich Angehörige positiv zur
Organentnahme äußern, wird ihre Meinung gern gehört und verbreitet.
Dabei wäre es so wichtig, gerade denen zuzuhören, die zugestimmt haben und
unter den Folgen leiden. Manche zerbrechen daran. Und für viele von uns hat
sich das Leben auf Dauer verdunkelt. Denn zu wissen, dass wir unsere
sterbenden Angehörigen im hilflosesten Zustand im Stich gelassen haben, tut
unendlich weh.
Eine Therapie, die für das Überleben des Einen - Sterben und Tod des Anderen
braucht, kann niemals selbstverständlich sein. Eine Therapie, die vielen
Angehörigen zusätzlichen Schmerz zufügt und ihnen den Seelenfrieden nimmt,
darf nicht eingefordert werden.
Manchmal höre ich: "Das war doch eine gute Entscheidung, die ihr getroffen
habt. Vier Menschen können mit seinen Organen weiterleben." Meine Antwort
ist: "Wie kann ich für das Leben anderer verantwortlich gemacht werden, wenn
ich dafür auf die liebevolle Zuwendung zu meinem sterbenden Sohn, meinem
Nächsten, verzichten muss? Und auf den bleibenden Trost, den diese
Begleitung uns in der Trauer bedeutet hätte? Wir Menschen haben ein
überliefertes inneres Wissen darum, wie achtsam man mit Sterbenden und Toten
umgehen muss. Dieses Wissen muss bei einer Organentnahme unterdrückt werden.
Organentnahme bei Menschen mit Hirnversagen ist keine Spende, sondern ein
Opfer.
Im Transplantationsgesetz wird von der "Achtung der Würde des Organspenders"
gesprochen. Mir fällt es schwer, bei einer Explantation an Würde zu denken.
Und in vielen Texten finde ich Bezeichnungen für Organspender, die keine
Spur von Achtung oder Würde zeigen.
Ich lese zum Beispiel: "der innerlich Enthauptete", "Organbank", "in
vivo-Konserve= lebende Konserve". So sprechen manche Fachleute von einem
Menschen in seiner letzten Lebenszeit!
Schlimm finde ich Begriffe, die Zusammenhänge verschleiern: Das sogenannte
neue Organ hat man einem sterbenden Menschen entnommen, also kann man auch
nicht von einer Leichenspende sprechen. Es gibt keinen Tod auf der
Warteliste, sondern man stirbt an einer Krankheit. Diese Formulierung ist
der unzulässige Versuch, Schuldgefühle bei anderen zu erzeugen, damit sie
möglichst einen Organspendeausweis ausfüllen oder als Angehörige der
Organentnahme zustimmen.
Als Erfahrung möchte ich weitergeben:
Das Wichtigste: Sie haben das Recht, Nein zu sagen! Vor allem, wenn Sie
stellvertretend für einen anderen entscheiden sollen.
Wenn Sie sich trotzdem für die Organspende entscheiden wollen, nehmen Sie
Ihre Mindestrechte wahr:
Holen Sie sich zusätzliche Informationen.
Fordern Sie eine Narkose.
Ihre Angehörigen haben das Recht auf Akteneinsicht.
Und besonders die jungen Menschen hier bitte ich: Besprechen Sie Ihre
Entscheidung mit der Familie. Denn Ihre Angehörigen müssen im Ernstfall
damit weiterleben.
Zum Schluss möchte ich einen Traum erzählen:
Ein einziger Gedanke bewegt mich: Ich muss die Explantation meines Sohnes
verhindern, in letzter Minute. Atemlos und voller Panik laufe ich einen
langen, verwinkelten Gang entlang in sein Zimmer, weil ich versuchen muss,
alles rückgängig zu machen. Aber es ist zu spät. Sein Bett ist leer. Nur auf
dem Nachttisch steht eine Handkreissäge. Blut tropft nach unten.
Und aus diesem Alptraum kann ich nicht erwachen - darin lebe ich.
© Renate Focke, 2005
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